Eine Kämpferin um das Erbe ihres Stiefvaters

von Ph. Müller

Dritter Holocausttag an der Kreisschule Mittelgösgen

Der 20. Mai 2019 wird den Schülerinnen und Schülern der Abschlussklassen der Kreisschule Mittelgösgen wohl noch lange in Erinnerung bleiben. Grund dafür ist die persönliche Begegnung mit Agnes Hirschi, der Stieftochter einer herausragenden Schweizer Persönlichkeit. Ihr Stiefvater Carl Lutz war während des 2. Weltkriegs als schweizerischer Vize-Konsul in Budapest massgeblich an der Rettung zehntausender ungarischer jüdischer Menschen beteiligt – eine Tat für die er zu Lebzeiten nie die entsprechende Würdigung von Seiten der offiziellen Schweiz erhalten hat. 1975 hat er auf seinem Sterbebett Agnes Hirschi das Versprechen abgenommen, sich für sein Erbe stark zu machen – eine Aufgabe, die sie bis zum heutigen Tag umtreibt.

Erste Präsidentin der Carl Lutz Gesellschaft

Diese Zusage verlangt der heute 81Jährigen einiges an Engagement ab. Unermüdlich reist sie von Vortrag zu Vortrag und dies weltweit. So war sie kürzlich in Israel, in den Vereinigten Staaten, eben erst in Dachau und an diesem Montag an der Kreisschule Mittelgösgen.
Bei dieser Flut an Arbeit wird Agnes Hirschi mittlerweile von der im vergangenen August in Bundeshaus West gegründeten «Carl Lutz Gesellschaft» unterstützt, deren 1. Präsidentin sie selber ist. Ziel dieses Vereins ist es, das Wirken von Carl Lutz in der breiten Öffentlichkeit bekannt zu machen und die Erinnerung an Carl Lutz’ Rettungsaktion zu bewahren. Vorträge an Schulen eignen sich hierfür perfekt. Der Erfolg stellt sich langsam ein. Erst kürzlich wurde am Geburtshaus von Carl Lutz im appenzellischen Walzenhausen eine Gedenktafel enthüllt, und Agnes Hirschi war im vergangenen Jahr auch Gast in der Sendung «Club» des Schweizer Fernsehens, welche unter dem Titel «Die letzten Zeugen» stand.
Um das Andenken wachzuhalten und für weitere Generationen zu sichern, entstanden im Rahmen des Besuchs von Agnes Hirschi an der Kreisschule auch Filmaufnahmen, welche zu dokumentarischen Zwecken aufbereitet werden.

Carl Lutz – eine herausragende Persönlichkeit

Der Schweizer Diplomat Carl Lutz (1895–1975) leitete im Zweiten Weltkrieg als Vizekonsul die grösste Rettungsaktion ihrer Art. Mit zahlreichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern gelang es ihm in Budapest mehrere Zehntausend jüdische Personen vor dem Transport ins Konzentrationslager zu bewahren. Nach dem Krieg erhielt der Appenzeller zahlreiche internationale Ehrungen für seinen mutigen humanitären Einsatz. In seiner Heimat blieb sein Wirken aber lange kaum beachtet. 1963 ehrte seine Heimatgemeinde Walzenhausen Carl Lutz mit der Ehrenbürgerschaft. 1964 wurde er als erster Schweizer von der Holocaust-Stiftung Yad Vashem als «Gerechter unter den Völkern» anerkannt. Carl Lutz war dreimal für den Friedensnobelpreis nominiert worden. Der ehemalige Vize-Konsul wurde von den offiziellen Schweizer Stellen gar wegen angeblicher Kompetenzüberschreitung gerügt und erst 20 Jahre nach seinem Tod durch den damaligen Bundesrat Flavio Cotti rehabilitiert. Seit Februar 2018 trägt ein Sitzungszimmer im Bundeshaus West, dem Sitz des schweizerischen Aussenministeriums, den Namen «Salle Carl Lutz».

„Die Regeln des Lebens sind stärker als die Regeln, welche von Menschenhand gemacht sind“ – mit diesem Bonmot lässt sich das couragierte Handeln von Carl Lutz sehr schön charakterisieren.

Das Potential von Zeitzeugen nutzen

Bereits zum 3. Mal fand der Holocausttag an der Kreisschule Mittelgösgen statt. Ziel ist es, den Jugendlichen einen direkten, persönlichen Kontakt mit Zeitzeugen zu ermöglichen. Noch ist dies möglich, doch werden solche Begegnungen immer unwahrscheinlicher. Umso wichtiger ist es, solche Treffen zu ermöglichen. Nach Frau Professor Erika Rosenberg, der offiziellen Nachlassverwalterin von Emilie Schindler (der Ehefrau von Oskar Schindler – Schindlers Liste) im Jahre 2017 und Elisabeth Häubi-Adler (Autorin des Buches „Brave Mädchen fragen nicht“) 2018 reiht sich Frau Hirschi in diese eindrückliche Reihe ein.

Es bleibt zu hoffen, dass sich auch im kommenden Jahr wiederum eine Persönlichkeit finden lässt, welche den Schülerinnen und Schülern Zeugnis aus gelebter Geschichte ablegen kann. Schlussendlich bleibt klar, dass derart geschaffene Bezüge viel nachhaltiger sind als ein gelesener Text aus dem Geschichtsbuch.  

Informationen zur Carl Lutz Gesellschaft: www.carl-lutz.ch

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