Das Thema habe ich nicht gesucht, es hat mich gefunden!

Sek E2 von Ph. Müller

„Die Zeit der Wunder“, das Jugendbuch von Anne-Laure Bondoux war der Ausgangspunkt zu einem vertieften Einblick in die schwierige Geschichte der Flüchtlingsströme in unserer heutigen Zeit. Ein Thema, das unseren Alltag auch künftig beschäftigen wird. Hagar Jäggi aus Trimbach konnte die Schülerinnen und Schüler der Klassen Sek E2ab mit ihren Erlebnissen und ihrem persönlichen Bezug berühren.

Das Buch „Die Zeit der Wunder“ befasst sich mit der fiktiven Odyssee von Koumaïl aus dem Kaukasus über mehrere abenteuerliche Stationen nach dem sicheren Frankreich. Diese Klassenlektüre wurde in den vergangenen Wochen gelesen und bearbeitet. So war es nicht mehr als klar, dass man um die Thematik der Flüchtlingsströme nicht herumkommt. So stand ein Kinobesuch des Filmes „Eldorado“ von Markus Imhoof auf dem Programm, und den Abschluss bildete der eindrückliche Vortrag von Hagar Jäggi.

Bilderflut lässt uns abstumpfen

Wer kennt es nicht, die Bilder von den ersten schiffbrüchigen Flüchtlingen. Die Tragödie im Mittelmeer löste tiefe Betroffenheit aus, aber mit jedem weiteren Ereignis, lassen wir diese Tragik weniger nahe an uns heran. Doch urplötzlich holt einem dieses Thema ein, es findet uns. So geschehen bei Hagar Jäggi. Als Deutschlehrerin sah sie sich plötzlich mit dem yezidischen Jungen B.M.* konfrontiert, einem klassischen UMA (unbegleiteter, minderjähriger Asylsuchender), dessen Schicksal sie berührte. Untergebracht in einem Flüchtlingsheim im Kanton Solothurn sahen Jäggi und die Betreuer sofort, dass dies kein Umfeld für einen 13-jährigen Jungen ist, und sie entschloss sich spontan zu helfen. Am 6. Dezember 2015 nahm sie den Jungen und seinen Cousin, der ebenfalls alleine in die Schweiz geflüchtet war, für drei Monate als Pflegekinder auf – eine wahre Herkulesaufgabe. Die Jungen waren von ihrer Flucht schwer traumatisiert, mutterseelenallein und so beanspruchten die zwei Teenager ihre Pflegemutter immer wieder, vor allem in der Nacht, wenn sie von Albträumen heimgesucht wurden.

Die Geschichte, welche die beiden Jungs zu verarbeiten hatten, ist wahrlich unglaublich. Innert Minutenfrist mussten sie ihr Haus verlassen, um vor den IS-Schergen zu flüchten, welche in ihrem Dorf eingefallen waren. Ihr Weg führte sie in das Sinjar-Gebirge, einem Zufluchtsort von tausenden Yeziden. In dieser unwirtlichen Gegend fehlte es an Wasser und Nahrungsmittel. Nur mit viel Glück und völlig dehydriert überlebten sie die 10 Tage mit einem absoluten Minimum an Wasser. Sie wurden mit einem irakischen Militärhelikopter, welcher Hilfsgüter lieferte, ausgeflogen. Ein Privileg, das nur Wenige hatten. Dieser Umstand rettete ihnen ihr Leben. Von diesem Moment stammt auch das angefügte Foto, welches durch die Medien ging.

Odyssee in die Schweiz

Über ein Flüchtlingslager gelangten die beiden Jungen auf einem sehr beschwerlichen Weg alleine in die Schweiz. Die Verzweiflung der Eltern muss enorm gewesen sein ihre Kinder alleine ziehen zu lassen. Die pure Not und Bedrohung an Leib und Leben liess die Eltern zu diesem Entschluss kommen. Der Preis dafür war unglaublich hoch. Die Trennung und die Angst, dass ihre Kinder wiederum sämtlichen Gefahren ausgesetzt sind, ist eine unglaubliche Belastung. Warum wurde die Schweiz als sicheres Land ausgesucht? Weil hier der Sitz des UN-Menschenrechtrates in Genf ist. Die Reise, versteckt in Lastwagen ohne sanitäre Anlagen und in ständiger Angst entdeckt zu werden, können wir uns nicht vorstellen.

Verarbeitung, ein dauernder Prozess

Angekommen im sicheren Heim bei Familie Jäggi, gab es einiges an Verarbeitung zu leisten. So kam es durchaus vor, dass bei einem einfachen UNO-Spiel die Jungen plötzlich von ihnen gesehene Todesszenen nachspielten. Für uns absolut schockierend, wenn wir uns vorstellen, was die beiden wohl alles erleben mussten. Doch ist dies auch eine Form der Verarbeitung dieser schrecklichen Erlebnisse.

Mittlerweile leben die beiden bei ihrem Onkel in der Schweiz und Hagar Jäggi steht nach wie vor in ständigem Kontakt mit „ihren“ Jungs. Aktuell ist es ihr Bestreben zu versuchen, deren Eltern mit einem humanitären Visum in die Schweiz zu holen – ein schwieriges Unterfangen. Jäggi meint, die gesetzlichen Grundlagen der Schweiz in Bezug auf Flüchtlinge seien ausreichend und gut, nur hat man die UMAs dabei vergessen. Dort fehlt eine praktikable Lösung für diese komplexen Fälle, und das Ziel ist ja nicht – so ihre ganz persönliche Meinung – der Migration Tür und Tor zu öffnen, sondern jeden einzelnen Fall ganz genau zu beurteilen.

 

Lange Zeit lebte Hagar Jäggi ihr Leben, ohne sich mit dem Thema Flucht auseinanderzusetzen, es ging sie nichts an, sie lebte ja nicht dort. Doch der Moment, wo es zum Kontakt mit den beiden yezidischen Jungen kam, hat ihr Leben verändert und stark beeinflusst. Als vierfache Mutter stellte sie sich die Frage: „Was wäre, wenn ich selber oder meine Kinder in diese Situation gelangen würden?“

Somit gab es für sie nur eine Option, diejenige zu helfen. Diese Botschaft klingt über das Ende des Vortrags hinaus. Befinden wir uns einmal in einer solchen Situation, sind wir dann auch bereit zu helfen? Nehmen wir das Thema an, welches wir nicht gesucht, es uns aber gefunden hat? Hagar Jäggi kann diese Frage klar mit einem deutlichen „JA“ beantworten.

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