Früher war alles besser – oder vielleicht doch nicht...?

Sek E3 von A. Basler


Frau Uschi Waser lebte von 1953 bis 1971 an 26 verschiedenen Orten: Pflegefamilien, Kinderheime, Erziehungsheime und Bürgerheime, unter den vielen Adressen auch das Kinderheim St. Ursula im solothurnischen Deitingen! Sie war und ist als Angehörigen des jenischen Volkes Opfer des Hilfswerkes „Kinder der Landstrasse“ und hat sich entschieden, ihr Schweigen zu brechen, um als Präsidentin der Stiftung Naschet Jenische andere Opfer bei der Aufarbeitung, bei Fragen oder Problemen zu unterstützen. Uschi Waser hat die Schülerinnen und Schüler der 3. Sek E im Profilunterricht Geschichte besucht.

Die Schülerinnen und Schüler sind vorbereitet!

Gerade das Profilfach Geschichte bietet unendlich Möglichkeiten zur Thematisierung von aktuellem Zeitgeschehen. Zusammen mit ihrem Geschichtslehrer Philipp Müller haben die Schülerinnen und Schüler des Profilfachs Geschichte die durchaus unrühmliche Geschichte der Verdingkinder, der Spazzacamini und der geraubten Kinder der Fahrenden in der Schweiz aufgearbeitet. Dabei haben sie den Film „Kinder der Landstrasse“ von Ursula Egger, einen Ausschnitt aus dem Film „jung und jenisch“ von Martina Rieder und Karolin Arn und den Bericht über Uschi Waser im Jahresrückblick 2016 des Schweizer Fernsehens gesichtet sowie die Lebensgeschichte der Referentin aus dem Buch „Von Menschen und Akten“ von Sara Galle und Thomas Meier gelesen und erörtert. Schliesslich haben sie Fragen an Uschi Waser vorbereitet.

Die Geschichte steht persönlich vor einem!

Und dann stand sie da – persönlich, unaufgeregt, erfahren, authentisch – Frau Uschi Waser. Als Angehörige der Minderheit Jenische hat sie am 13.12.1952 das Licht der Welt erblickt. Damals hat sie ihr Heimatland für ihre Herkunft schwer bestraft. Über die Art der Strafe, die den Kindern ihrer Art zu teil wurde, haben alle Medien mehr oder weniger ausführlich berichtet. Der "Makel" Zigeuner klebte förmlich an ihr. Bis zu ihrem 18. Lebensjahr hat sie offener Rassismus durch alle Heime, Schulen und Anstalten begleitet.

Sie steht vor den Schülerinnen und Schülern und bringt Auszüge aus ihren Akten mit. Die Akten des ersten Lebensjahres haben bereits die Ausmasse eines Buches, im Laufe ihres Lebens sind es 3'500 Aktenseiten geworden. Die Auszüge beschämen die damals Verantwortlichen in gleichem Masse wie sie die Betroffenen brandmarkte. Beispielhaft möge der erste Akteneintrag aus dem Jahr 1953 an dieser Stelle erwähnt sein: „ ... ein neuer Ableger der Vaganität“.
Ihre Heimkarriere bezeichnet Uschi Waser als eine einzige Tragödie. Aufgrund dieser Tatsache fehlt ihr auch heute noch das Urvertrauen zu ihren Familienmitgliedern, die behördlich verordnete Trennung hat hier ganze Arbeit geleistet. Nur sehr zaghaft wächst in den letzten 10 Jahren ihre Beziehung zu einer ihrer Schwestern heran. Trotzdem die harte Aussage, dass sie beziehungsmässig eigentlich keine Geschwister hat. Der Keil, welcher hier in Familien getrieben wurde, lässt sich nicht so einfach entfernen und ungeschehen machen.

Geschichte aktiv beeinflussen braucht Mut und Durchhaltewillen!

Und dann kam der Entschluss, die eigene Geschichte aufzudecken und Leidensverwandten die notwendige Unterstützung zu bieten. Die Bekämpfung der fahrenden Lebensweise, wie es die Pro Juventute mit dem „Hilfswerk für Kinder der Landstrasse“ mit finanzieller Unterstützung des Bundes und Hilfe der Behörden durch systematische Wegnahme von Kindern aus fahrenden Familien beabsichtigte, stellt heute aus juristischer Sicht einen kulturellen Genozid dar. Eine Pressekampagne im Jahr 1973 bewirkte das Ende des Hilfswerks, deren Folgen jedoch bis heute andauern. Und um diese Folgen kümmert sich heute unter anderem die Stiftung Naschet Jenische (www.naschet-jenische.ch), welcher Uschi Waser als Präsidentin vorsteht. Dabei stellt die Aufarbeitung der Vergangenheit für Direktbetroffene durch die Unterstützung bei der Beschaffung von und der Einsichtnahme in Akten eine wichtige Hauptaufgabe dar. Auch die Beratung und Vermittlung bei persönlichen Problemen sowie die Öffentlichkeitsarbeit stellen zentrale Aufgabenbereiche dar. Dazu gehört auch der Besuch einer Profilklasse Geschichte an der Kreisschule Mittelgösgen.

Anspruchsvoller Bezug zur eigenen Situation

Fünf Monate vor Abschluss der obligatorischen Schulzeit, die Anschlusslösung bei den meisten schon eingerichtet – mit dieser Ausgangslage begegnen die Schülerinnen und Schüler in der Person von Uschi Waser der Lebenswelt der Jenischen, die eine andere, eine fremde scheint. Vorurteile gibt es genügend – sowohl bei Erwachsenen als auch bei Jugendlichen. Nichtwissen ist der beste Nährboden für Vorurteile, Information und direkte Begegnung fordert zur Reflexion heraus und stellt Vorurteile – sofern solche vorliegen sollten – in Frage. Eine echte und persönliche Auseinandersetzung kann entstehen.

Exemplarisch darf hierbei Unbekanntes erfahren, Oberflächliches hinterfragt, Polarisiertes entlarvt werden. Es gilt den Beteiligten, allen voran den offenen und interessierten Schülerinnen und Schülern, für diesen aktuellen Geschichtsunterricht ein Lob auszusprechen.

Zu guter Letzt richtete Uschi Waser einen Appell an die Heranwachsenden: „Wenn ihr einmal in eine Situation kommt, wo ihr Ungerecht begegnet, dann vertraut auf euer Rechtsempfinden und klagt an und handelt. Wir leben in Zeiten, wo extreme Positionen wieder salonfähig werden.“

Für weitere Informationen sei die Seite www.stiftung-fahrende.ch empfohlen.

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