Spannende Begegnung im Rahmen des «Nachkommen-Erzählen-Projektes»

Sek E3 von Ph. Müller

«Wenn meine Grossmutter den Holocaust nicht überlebt hätte, könne ich heute nicht zu euch sprechen…»

Das Verstummen von Zeitzeuginnen und Zeitzeugen der Shoah stellt eine grosse Herausforderung bei der Holocaust-Education dar. Zwar finden sich zahlreiche Bildquellen von Überlebenden, aber das direkte «Zeugnis ablegen», die zwischenmenschliche Begegnung fehlt. Diese Lücke versucht ein neues Projekt der «SET-Stiftung Erziehung und Toleranz» und der «Gamaraal Foundation» zu schliessen, indem Nachkommen über ihre Familiengeschichte Auskunft geben. Ein gelungener Ansatz, wie der Besuch von Ari Hechel an der Kreisschule Mittelgösgen eindrücklich aufzeigt.

Ari Hechel, 20-jähriger Student aus Zürich erzählte den rund 40 Jugendlichen der Abschlussklassen der Sekundarschule E die aufwühlende Lebensgeschichte seiner vor rund fünf Jahren verstorbenen Grossmutter Blanche, oder aber Biboche, wie sie von Ari selber zärtlich genannt wurde.

Sein Vater beschäftigt sich seit geraumer Zeit mit der Genialogie, der Ahnenforschung zu seiner Familie. In diesem Zusammenhang lernte Ari auch die Geschichte seines Urgrossvaters Fernand kennen, welche seine Erinnerungen im Jahre 1985 in französischer Sprache auf eine Kassette gesprochen hatte.

Aris Grossmutter ist 1937 in Strassburg im Elsass geboren worden. Ihre Eltern führten ein Kleidergeschäft. Nach dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht in Frankreich floh die Familie nach Marseille in Südfrankreich, wo damals das sogenannten Vichy-Regime regierte. Sein Urgrossvater Fernand wurde in den Militärdienst eingezogen, erhielt aber vorerst keine militärische Ausrüstung. Juden und nicht eingebürgerte Franzosen wurden nur im Landesinnern eingesetzt, da man Angst hatte, dass sie sich im Krieg zu wenig für Frankreich einsetzen würden.

Aufgrund einer Verletzung kam Fernand in ein Hospiz und wurde dort gepflegt. Nach der Genesung und dem verlorenen Krieg wollte er zu seiner Familie in den Süden. Dabei wurde er sogar von deutschen Soldaten bis nach Bordeaux mitgenommen. Diese wussten nicht, dass ihr Mitfahrer Jude war, hatte er doch seinen Ausweis zerrissen.

In Marseille hatte die Familie ein Auskommen, da sie ihr Kleidergeschäft noch rechtzeitig von Strassburg ans Mittelmeer gezügelt hatte. Trotzdem war man auch hier alles andere als sicher. So wurde der Vater von Fernand, Samuel, anlässlich eines Sabbat-Gebets gefangen genommen und via Gefängnis und einem Konzentrationslager in Frankreich nach Auschwitz deportiert. In diesem Vernichtungslager ist er schlussendlich umgekommen. Es bleiben nur noch wenige Erinnerungsstücke an Samuel, unter anderem der Gebetsmantel, welchen Ari heute nutzt und sich so seinem Urahnen verbunden fühlt.

Nach diesem Vorfall wurde die Situation für die restliche Familie immer schwieriger und sie floh mit gefälschten Pässen nach Nizza, die Stadt an der Côte d’Azur, welche zu dieser Zeit unter der Kontrolle der italienischen Faschisten unter Benito Mussolini stand. Ari bemerkte hierzu eindrücklich: «Heute fälscht man Ausweise um beispielsweise in einen Club zu kommen oder um an Alkohol zu gelangen, für meine Vorfahren waren gefälschte Papiere überlebenswichtig.»

Nach dem Sturz Mussolinis war die Situation auch in Nizza nicht mehr sicher und die Familie floh weiter nach Zentralfrankreich in die Dordogne, wo sie den Krieg schlussendlich überlebten. In dieser Zeit landeten die Alliierten am D-Day in der Normandie und befreiten Frankreich Schritt für Schritt.

Schlussendlich, nach Ende des Krieges, kehrte die Familie wieder nach Strassburg in ihre alte Wohnung zurück, welche zwischenzeitlich von Nazis okkupiert und bewohnt gewesen war. Aus dieser Wohnung stammen noch einige Möbelstücke, die mittlerweile bei Aris Familie zuhause in Gebrauch sind. Sie essen und feiern nun also an einem Tisch, an welchem früher Nazis sassen. So schliesst sich der Kreis wieder.

Für Ari Hechel ist es wichtig, Zeugnis von seiner Familiengeschichte abzulegen, und er scheut sich auch nicht, seine Religion zu erklären und so Berührungsängste abzubauen. Die Reaktionen von Seiten der Schülerinnen und Schülern waren durchwegs positiv, wie nachfolgende Statements veranschaulichen:

  • Er hat seine Familiengeschichte sehr realistisch und spannend erzählt. Anders als in Geschichtsbüchern war dies sehr persönlich.
  • Toll war, dass Ari unsere Klassen immer wieder miteinbezogen hat mit Fragen oder Rätseln.
  • Der Abschluss mit der hebräischen Sprache, die er uns beigebracht hat, war sehr witzig.
  • Unsere Fragen wurden gut und spannend beantwortet.
  • Ich finde es wichtig, dass du deine Familiengeschichte weiterverbreitest und damit ein Zeichen gegen Ausgrenzung setzt. Mach weiter so, denn du tust damit etwas Gutes.
  • Du hast mit Gefühl erzählt und uns somit als Menschen ins Herz getroffen.

Zusammenfassend darf gerne festgehalten werden, dass dieses «Nachkommen-Erzählen-Projekt» eine sehr willkommene Alternative zu einer Zeitzeugenbegegnung ist. Der geringe Altersunterschied zwischen Ari und den Jugendlichen führte dazu, dass der Funke von allem Anfang an zündete und sich die jungen Erwachsenen sehr gut in die Geschichte einfühlen konnte. Hier hilft sicherlich auch die Sprache, welche viel näher bei den Jugendlichen ist.

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